Vor Kurzem besuchte ich mit einer Freundin das Dialog-Museum in Frankfurt. Damit wir auch einen entsprechenden Eindruck mitnehmen können, buchte Stephanie die 90-Minuten-Tour für uns. Im Museum angekommen probierten wir uns als erstes im Schreiben der Brailleschrift. Um die Erhöhungen auf dem Blatt erfühlen zu können, muss man sozusagen auf der Rückseite des Blattes von rechts mit dem Schreiben beginnen und die Buchstaben spiegelverkehrt schreiben. Zum Lesen braucht man ein sehr ausgeprägtes Gefühl in den Fingerspitzen, sonst kann man die feinen Erhebungen nicht erkennen. Eine ganze Zeitung in Brailleschrift zu lesen stelle ich mir sehr anstrengend vor. Glücklicherweise gibt es heute moderne Techniken, die blinden Menschen das Leben angenehmer machen, kam mir dabei in den Sinn.
Gegen 12 Uhr ging es dann los mit einer kurzen Einweisung. Im halbdunklen Vorraum wurden wir mit einem Blindenstock ausgestattet, der immer vor uns am Boden entlangzuführen war. Dann wurden wir zu unserem Guide gebracht. Schon nach wenigen Metern herrschte absolute Dunkelheit. Es war wirklich stockdunkel, nicht mal die Helligkeit einer Neumondnacht. Nein, es war schwarze Nacht und eine erste Panik erfasste mich. Gedanken wie „Hilfe, wie soll ich das 90 Minuten aushalten“ schwirrten mir durch den Kopf. Dann meldete sich irgendwo eine sympathische Stimme aus dem Off: „Hallo, ich bin Rico und ich bin euer Guide für die nächsten 90 Minuten“. „Uff, der klingt ja sehr nett“, eine kleine Erleichterung machte sich breit. Es folgten ein paar Erklärungen zum Ablauf und wer es nicht mehr aushalten könne, der gebe bitte Bescheid. Man würde uns dann umgehend ans Licht begleiten. Ok, so ein kleines Hintertürchen gibt es ja doch, aber eigentlich möchte ich ja durchhalten. Ich wusste nur noch nicht wie. Dann ging es los zum ersten Erlebnisraum: Rechts mit dem Stock in der Hand und mit der linken Hand an der Wand entlang tastete ich mich voran und kam mir absolut orientierungslos vor. Der Untergrund änderte sich und ich stand auf einem kiesähnlichen Weg. Wo waren die anderen? Ups, ich war wohl zu weit nach links gegangen und musste mich wieder ein Stück zurück tasten. Die anderen ertasteten bereits einen Gegenstand hinter einem Geländer. „Strecke deine Hand über das Geländer aus. Was spürst du?“ fragte Rico. Ich soll meine Hand ausstrecken? Wer weiß, was sich hinter diesem Geländer versteckt? Gedanken aus meiner Jugendzeit und den Geisterbahnbesuchen kamen mir wieder in den Sinn. Unglaublich, was mein Kopfkino heute zu bieten hat. Ich redete mir selbst innerlich gut zu, dass ich nicht in einer Geisterbahn sei, sondern in einem seriösen Museum. Ich nahm allen Mut zusammen und streckte dann doch die Hand aus und fühlte Fell. Das ist ein Schaf, wie uns Rico dann freudig mitteilte. Dann wurden wir angewiesen mit der rechten Hand etwa in Kopfhöhe an der rechten Wand zu fühlen. Jetzt war ich schon etwas mutiger. Danach sollten wir über den Kiesweg und dann über eine Brücke laufen. „Die Brücke kann etwas“, verkündete Rico „aber ich verrate euch nicht was“. Nun, das haben wir schnell selbst herausgefunden. Sie wackelte – und das ganz heftig. Im Dunkeln fühlte sich das alles noch viel intensiver an. Rico fragte von Zeit zu Zeit unsere Namen ab, damit auch niemand verloren ging. Das beruhigte mich. Unglaublich wie schnell er unsere Namen drauf hatte; selbst wenn wir gar nichts gesagt hatten wusste er manchmal wer neben ihm war. Ok – er verriet uns, dass er sich das Gewebe unserer Kleidung eingeprägt hatte. Wenn wir an ihm vorbeigingen strich er über unseren Arm und wusste auch dadurch wer gerade an ihm vorbeiging.
Auch hatte ich so nach und nach das Gefühl, dass die anderen sich ebenso hilflos fühlten wie ich. Es war also gar kein Problem, den anderen Personen in der Gruppe mal auf die Pelle zu rücken wie das vielleicht in einer dicht besetzten Straßenbahn ist. Jeder in der Gruppe war rücksichtsvoll und hilfsbereit und vor allem verständnisvoll für die Tapsigkeit der anderen Teammitglieder. Während der kurzen Einführung im Halbdunkel hatte ich die anderen Teilnehmer zwar gesehen, aber hier in dieser Dunkelheit war es plötzlich egal, wie der Mensch aussieht, der gerade neben mir ist. Es spielte keine Rolle, ob alt oder jung, arm oder reich oder wie er gekleidet war. Ich orientierte mich an den Stimmen und an der wohlwollenden Ausstrahlung, die jeder selbst im Dunkeln vermittelte. Wir waren ein Team geworden, das sich gegenseitig unterstützte. Und so leitete uns Rico ‚rechts an seiner Stimme vorbei‘ in den nächsten Raum. Es war ein Klangraum mit wechselnden Geräuschen und verschiedenen Musikstücken, die lebendige innere Bilder in mir erscheinen ließen. Den anderen erging es genauso, berichteten sie. Nach dieser Erfahrung beschäftigte mich der Gedanke, welche Bilder ein Mensch vor seinem geistigen Auge sieht, der schon von Geburt an blind ist? Welches Bild zeigt sich, wenn ein Elefant trompetet oder orientalische Musik ertönt? Vielleicht sind Bilder auch gar nicht so wichtig, weil die anderen Sinne stärker ausgeprägt sind als bei mir? Meine visuelle Wahrnehmung ist besonders ausgeprägt. Nachdem diese nun außer Gefecht gesetzt ist, werden meine anderen Sinne ganz schön gefordert. Aber die können sich so schnell gar nicht umstellen, was mich besonders hilflos fühlen lässt. Auch hatte ich ständig das Gefühl, dass sich diese Dunkelheit auf mich runterdrückt wie eine Zimmerdecke von oben. Ich konnte wahrnehmen, wie ich ständig meinen Kopf eingezogen habe.
Nach einer simulierten Bootsfahrt auf dem Main, der Herausforderung im Straßenverkehr, etc. kamen wir am Ende in der Dunkelbar an. An einer Theke stehend wurde uns im Eiltempo gesagt, welche Snacks man zu welchem Preis erwerben konnte und welche Getränke zu welchem Preis angeboten werden. Ich bestellte eine Bionade und war gespannt, welche Sorte es war. Aus meiner Hosentasche zog ich einen Fünf-Euro-Schein und bezahlte. Dass das Wechselgeld stimmte, konnte ich erst später im Hellen sehen, denn das Gefühl für die Unterschiedlichkeit der Münzen fehlte mir. Mit der Flasche in der Hand wurden wir dann an einen freien Tisch geführt und konnten uns setzen. Ich schnupperte an meiner Flasche. „Es könnte Ingwer-Orange“ sein vermutete ich und nahm einen vorsichtigen Schluck. Ja, das kommt hin. Mein Geschmackssinn bestätigte meine Vermutung. Allerdings hatte ich das Gefühl, dass der Geschmack nicht so ausgeprägt schmeckt als sonst. Vermutlich liegt es daran, dass ich die Farbe momentan nicht sehen kann?
Nach dem Besuch der Dunkelbar wurden wir langsam nach draußen in einen dämmrigen Vorraum geführt. Die Augen gewöhnten sich nur ganz langsam an die Helligkeit. Nachdenklich durch diese Erfahrung setzten wir uns erstmal auf die nächste Bank und erzählten uns gegenseitig unsere Empfindungen während der Tour. Nach diesem Erlebnis wünschten wir uns einen schönen Ort. So führte uns der Weg in ein sehr schönes Café mit leckerem Kuchen. Das Erlebnis beschäftigte mich noch den ganzen Sonntag. Der Besuch des Dialog-Museums war für mich ein gravierender Perspektivenwechsel. Und er verstärkte auch meine Dankbarkeit die Welt mit all ihren Farben und Naturschauspielen sehen zu können: die Jahreszeiten mit dem frischen Grün im Frühling oder die bunten Blätter im Herbst, eine verschneite Landschaft mit glitzerndem Schnee, einen Sonnenuntergang am Meer im Sommer. All diese wunderbaren Dinge sehen zu können – dafür bin ich unendlich dankbar. Und meine Achtung gegenüber blinden Menschen, die ihr Leben voll im Griff haben und ihr Leben voll Dankbarkeit und Selbstverständnis leben, ist beachtlich gewachsen.
Wir Menschen sollten viel öfter einen Perspektivenwechsel vornehmen, um die Welt mit anderen Augen zu sehen, obwohl ich in diesem Fall gar nichts gesehen habe. Perspektivenwechsel sorgen immer für eine gesteigerte Empathie, die so wichtig ist für gegenseitiges Verständnis unter den Menschen. Wie gestalten Sie Ihren Perspektivenwechsel?
Herzlichst,
Ihre
Corinna Wiß